Dieser Roman wirft Schlaglichter auf die Dynamik der politischen Mächte in Europa vor hundert Jahren. Nach dem Weltkrieg und der Oktoberrevolution erschüttern Bürgerkriege und Aufstände das labile Gefüge, das mit internationalen Verträgen kaum ausbalanciert werden kann.

Larissa Reissner (1895 - 1926) ist die zentrale Figur in diesem Roman. Die junge Journalistin, modern und selbstbewusst, wird von allen bewundert, die ihr begegnen. Und das sind viele: Künstlerinnen und Generäle, Diplomaten und Berufsrevolutionäre. Bei Recherchen in Afghanistan fällt ihr ein Plan in die Hände, ein Plan, mit dem die Welt verändert werden könnte. Entworfen hat ihn Oskar Niedermayer, Vertrauter des Reichswehr-Generals von Seeckt.

Die Grundidee dieses strategischen Plans lautet: Wenn der britische Imperialismus, die scheinbar allmächtige Weltmacht, von Afghanistan und Indien aus angegriffen wird, würde das Machtgefüge in Europa erschüttert. Damit wären die Bindungen Deutschlands durch den Vertrag von Versailles zu lösen.

(Es gab ein ähnliches Konzept, wenige Jahre zuvor. Über den Versuch, das Osmanische Reich durch Aufstände zu erschüttern und gegen die Briten an die Seite des Deutschen Kaiserreichs zu bringen, hatte Steffen Kopetzky in seinem 2015 erschienenen Roman "Risiko" geschrieben - hier war der junge Offizier Niedermayer die Hauptfigur.)

In dem geheimen Plan des deutschen Offiziers sieht Larissa Reissner, deutsche Revolutionärin in Russland, eine historische Chance: so würde der Hauptgegner der sozialistischen Bewegung geschwächt, und die Revolution in Russland bliebe nicht isoliert. Die Reissner macht sich auf die Suche, findet Niedermayer und bringt ihn mit General Tuchatschewski zusammen, dem Helden der Roten Armee.

Seltsam, diese scheinbare Gemeinsamkeit von Interessen...

Der Autor legt es nicht auf Bezüge zur aktuellen Situation an, aber man merkt gelegentlich, dass das Buch während des Kriegs gegen die Ukraine geschrieben wurde.

Sehr unterschiedlich sind die Komponenten in diesem Werk: da findet man eine Wanderung in der Natur, eine Familien-Szene im Leipziger Bürgertum, das Protokoll einer Geheimdienst-Besprechung, einen Ausschnitt aus einem Theaterstück, hin und wieder auch Erklärungen zur historischen Situation, eine illustre Gesellschaft in der Villa eines revolutionären Mäzens.

Wir lesen hier einen historischen Roman, hochaktuell und prallvoll, der uns immer wieder zum Nachdenken bringt: über jene Epoche vor hundert Jahren - und unsere Zeit.

(Ulrich Hentschel)