Venedig geht unter, früher oder später. Wann und wie, dazu gibt es Szenarien, die mehr oder weniger schlüssig und durch Fakten und Forschung untermauert sind.

Die französische Autorin Isabelle Autissier lässt Venedig im Jahr 2021 untergehen. In ihrer Version treffen verschiedene Faktoren, die längst bekannt sind, zusammen: die Erosion der Fundament-Mauern durch langjährigen Pegelanstieg in der Lagune, Fehler in der Bewirtschaftung der Inseln, Verschlammung des Wassers, Sturm aus Süden treibt Wasser der Adria vor sich her, dem die Schwimmkörper der MO.S.E. Deiche nicht standhalten. Und die enge Bebauung bewirkt im Domino-Effekt, dass ein Haus, das ins Wanken gerät, die Mauern der Nachbarhäuser mitreißt. Die Wohnhäuser, Paläste, Kirchen und Türme liegen in Trümmern.

Stoff für Sachbücher oder Science Fantasy oder Weltuntergangs-Symbolik, könnte man denken. Dieser Roman blickt in die Zeit kurz vor der Zerstörung Venedigs zurück (also in unsere Gegenwart). Er macht aus der Katastrophe eine gut lesbare Geschichte, in der drei Personen stellvertretend für unterschiedliche Einstellungen agieren. Guido ist Wirtschaftsrat in der Stadtverwaltung, er setzt auf ökonomische Entwicklung, zu der auch der Tourismus gehört, und die Bedrohung der Stadt muss durch technische Maßnahmen eingedämmt werden. Seine Tochter Léa

verlässt die Wohnung und den endlosen Streit in der Familie, sie zieht als Aktivistin in ein Protest-Camp. Maria Alba, die Mutter, träumt von vergangenen Zeiten, als ihre Vorfahren zum Glanz der Stadtrepublik beitrugen, und versucht zu beschwichtigen, die konfliktreiche Dynamik einzuhegen.

Die Autorin geht fair mit diesen Grundhaltungen um, sie entwickelt deren jeweilige Plausibilität im Alltagshandeln und konfrontiert sie im Spiel der Personen. Ruhig und unaufgeregt, in wunderbar leichter und eleganter Sprache, entfaltet sich - pars pro toto - ein Bild unserer Welt vor der Katastrophe.

Ulrich Hentschel